Traumapädagogik –  der traumaspezifische Ansatz in der Pädagogik

„Ich glaube, dass der Kern jeder Traumatisierung in extremer Einsamkeit besteht, im äußersten Verlassen sein. Damit ist sie häufig, bei Gewalttrauma immer, auch eine Traumatisierung der Beziehungen und der Beziehungsfähigkeit. Eine liebevolle Beziehung, die in mancher Hinsicht einfach „sicher“ ist, wird unerlässlich sein, um überhaupt von einem Trauma genesen zu können.“
(Onno van der Hart)

Entwicklung ist die Hauptaufgabe der Kindheit und Jugend. Wir entwickeln unsere Persönlichkeit, unsere Identität, kognitive Fähigkeiten, emotionale und soziale Reife. Damit wir uns gut entwickeln können, brauchen wir gute Bedingungen, d. h. liebevolle und schützende Erwachsene und eine sichere Umgebung.

Wenn die Bedingungen nicht gut sind, wenn die Umgebung, in der wir leben, uns nicht gut tut, dann haben wir keine Wahl, wir entwickeln uns „anders“, wir entwickeln Überlebensstrategien, d. h. Verhaltensweisen, die es uns möglich machen auch unter diesen Bedingungen, in dieser Umwelt zu leben. Wenn wir z. B. innerhalb unserer eigenen Familie irgendeine Form von Gewalt oder auch Vernachlässigung erleben, dann ist das für uns „normal“ im Sinne von alltäglich. Wir können es nicht angemessen einordnen, weil wir es nicht anders kennen, aber auch aufgrund unserer noch nicht ausgereiften kognitiven Fähigkeiten. Aber wir lernen, wie alle Kinder und Jugendlichen  –  in diesem Fall lernen wir, dass das, was wir erleben, normal ist, und dass es „normal“ ist, keine Hilfe zu bekommen. Zu unserer Entwicklung gehört auch die Entwicklung von Einstellungen und Überzeugungen. Wir fühlen uns nicht wohl, mit dem was passiert und wie wir leben (müssen)  –  das spüren wir. Wir versuchen damit klar zu kommen, es „irgendwie“ einzuordnen bzw. zu verarbeiten. Die einzig mögliche Form der psychischen Verarbeitung in diesem Alter ist es, die Schuld bei sich selbst zu suchen. So entwickeln wir die Einstellung, dass wir selbst Schuld haben, weil wir nichts wert sind, weil wir böse sind… Diese Einstellungen und destruktiven Überzeugungen prägen dann leider auch unser weiteres Leben, unsere schulische und berufliche Entwicklung ebenso wie unsere Beziehungen und unsere Erwartungen. Wir leben in der Überzeugung nichts Gutes verdient zu haben, stehen uns vielleicht an vielen Stellen selbst im Weg und leben bedeutet unter Umständen eine permanente Anstrengung, weil wir ja nie (gut) genug sind. Wenn wir keine Unterstützung bekommen, wenn wir mit all dem allein bleiben, dann kann es sein, dass wir diese Überzeugungen auch noch als Erwachsene in uns tragen und sie unter Umständen an unsere eigenen Kinder weitergeben.

Deshalb brauchen wir, wie Wilma Weiß in ihrem Buch „Philipp sucht sein ich  –  Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen“ schreibt, eine traumabezogene Pädagogik, denn die Definition von Traumabewältigung ist in Bewegung. Für traumatisierte Kinder und Jugendliche bedeutet Traumabewältigung das Verlassen der Opferrolle. Sie lernen mit pädagogischer Unterstützung für ihr Leben eigenverantwortlich zu sein. G. Hüther bezeichnet als vielleicht wichtigstes Ziel der Traumabewältigung die Veränderung der als Folge der Traumatisierung entstandenen Haltungen. Dazu zählt der Verlust von Vertrauen in und die Ablehnung von Sicherheit bietenden Beziehungen.
Wir haben als Folge der Traumatisierungen und weil wir ja irgendwie überleben mussten, Überlebensstrategien entwickelt. Diese Überlebensstrategien zeigen sich in unserem Verhalten und Auftreten. Oft fühlen sich andere Menschen (unsere Eltern, Geschwister, FreundInnen etc.) und unsere Umwelt (Kindertagesstätte, Schule etc.) davon gestört. Unser Gefühl falsch, schlecht, schuld zu sein, verstärkt sich dadurch noch. Was gut, hilfreich und vor allem entlastend sein könnte, wäre eine Unterstützung, die uns hilft, unsere Verhaltensweisen zu verstehen und als das einzuordnen, was sie sind  –  Reaktionen auf eine völlig abnormale Situation  – eben Überlebensstrategien. Als solche machen sie einen Sinn  –  egal, wie störend oder schädigend sie auch sein mögen. Genau diese Form der Unterstützung kann uns die Traumapädagogik bieten.

Martin Kühn spricht, wenn es um Traumapädagogik geht, von der Pädagogik des „sicheren Ortes“. Denn was bei Trauma am meisten gefehlt hat, ist Sicherheit und Kontrolle.

Sicherheit ist daher auch das, was die Traumapädagogik traumatisierten Kindern und Jugendlichen und Eltern soweit das möglich ist anbieten möchte.

Sicherheit

  • in der Beziehung,
  • im fachlichen Handeln,
  • dass Kinder, Jugendliche und Eltern wahr-/ernst genommen werden und dort abgeholt werden, wo sie stehen.

Deshalb steht im Mittelpunkt der Traumapädagogik die menschliche Begegnung mit dem Ziel, traumatisierten Kindern und Jugendlichen positive und korrigierende Beziehungsangebote außerhalb des familiären Rahmens zu bieten und  –  wenn möglich  –  Eltern darin zu unterstützen, ihre Bindung zu ihrem Kind zu verbessern und zu festigen. So kann neues Vertrauen entstehen, Selbstwirksamkeit gefördert, Aggression abgebaut und damit Selbstwertgefühl und Entwicklungspotenzial gesteigert werden.

Die stärksten, wirksamsten und nachhaltigsten heilsamen Erfahrungen finden in gesunden Beziehungen statt.
Besonders für traumatisierte Kinder und Jugendliche können sie eine grundlegend heilsame Wirkung haben.

TraumapädagogInnen verstehen sich dabei als ÜbersetzerInnen und BegleiterInnen oder auch als „Sicherheitsbeauftragte“ wie Martin Kühn es nennt, die uns diesen sicheren Ort zum Wachsen anbieten, der sich insbesondere durch das Bereithalten von guten und transparenten Beziehungen auszeichnet.

Transparent? Ist damit durchsichtig gemeint?

Ja genau, durchschaubar, einschätzbar soll die Beziehung sein, denn das bietet mir Sicherheit. So werde ich in meiner Selbstakzeptanz unterstützt, meiner Selbstregulation gefördert und ich kann die Erfahrung von Selbstwirksamkeit machen.

Selbstwirksamkeit, was bedeutet das?

  • Ich habe Einfluss.
  • Ich entscheide und gestalte mit.
  • Ich habe die Wahl.
  • Ich kann mich (auch) selbst versorgen.

Jemand sucht mit mir gemeinsam Antworten auf meine Fragen:
Was brauche ich?
Was tut mir gut?
Wie kann ich meinen eigenen Weg finden und gehen?
Eben ein Gegengewicht, eine andere, neue Erfahrung zu meinen Erfahrungen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein während des Traumas.

In den letzten Jahren hat sich die Traumapädagogik zu einem eigenen Fachgebiet entwickelt, das sich an Kinder und Jugendliche richtet  –  vergleichbar der Traumafachberatung für Erwachsene. Auf dem Hintergrund psychotraumatologischer Erkenntnisse nutzt, kombiniert und variiert sie die passenden Methoden sowie Haltungen der Pädagogik und der Psychotherapie für die Arbeit mit traumatisierten Kindern, Jugendlichen und auch Eltern. Neben den traumapädagogischen Methoden und Interventionen ist ein wesentlicher Aspekt die Grundhaltung der TraumapädagogInnen: Verhaltensauffälligkeiten und Probleme von Kindern und Jugendlichen werden nicht als störend oder belastend angesehen, sondern vielmehr als Folge von Traumatisierungen. In diesem Sinne werden sie als Notfallreaktionen oder Überlebensstrategien verstanden. Traumatisierte Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben viel erlebt, viel ausgehalten, viel Leid erfahren und wurden oft enttäuscht und allein gelassen. Traumapädagogik erkennt die Lebensleistung dieser Menschen an und würdigt sie.

Die Aufmerksamkeit der Traumapädagogik richtet sich besonders auf die sozialen Ursachen von Problemen. Mit einem ganzheitlichen Blick nimmt sie den einzelnen Menschen  – unabhängig vom Alter  –  mit seiner individuellen Lebensgeschichte wahr und versucht die menschlichen Verhaltensweisen und Strategien zu verstehen. Wenn Kinder und Jugendliche also aufgrund „ auffälligen“ Verhaltens als „Problemfälle“ beschrieben werden, dann versteht die Traumapädagogik dieses Verhalten als Hilferuf und als Notfallreaktion bzw. Überlebensstrategie, das als Folge von Traumatisierungen entwickelt werden musste. Aus der Sicht des Kindes bzw. des Jugendlichen heißt das: „ Hilf mir! Hilf mir, mich zu verstehen!“. Die Welt scheint „verrückt“ oder bin ich es selbst? Aus diesem Grunde liegt eine zentrale Aufgabe der Traumapädagogik in der Förderung und Unterstützung des Selbstverstehens.

Traumapädagogische Methoden und Interventionen können mir helfen, mich selbst besser zu verstehen und die Kontrolle über mein Leben, mein Verhalten und meine traumatischen Erlebnisse zurückzugewinnen. Die Traumapädagogik nennt das Selbstbemächtigung, Selbstwirksamkeit und Aktivierung der Selbstheilungskräfte. Neben dem Verständnis für mich selbst können traumapädagogische Angebote mir dabei helfen, mich selbstfürsorglich und selbstverantwortlich zu verhalten und wieder Selbstwirksamkeit zu spüren. Ich kann lernen einerseits meine Verhaltensweisen als Bewältigungs– und Selbstschutzstrategien zu verstehen und wertzuschätzen. Andererseits bekomme ich Unterstützung dabei, zu überprüfen, ob mir meine Verhaltensweisen heute vielleicht im Weg stehen, ob sie noch notwendig sind und wie ich alternative Handlungsmöglichkeiten entwickeln kann.

Traumapädagogik unterstützt und begleitet uns als Eltern vor allem dabei, das Verhalten unserer Kinder und die dahinter liegende Not erkennen zu können. Darüber hinaus erhalten wir als Eltern aber auch Verständnis für uns selbst und unsere Interaktion mit unseren Kindern. Immer da  – und nur da  –  wo wir als Eltern bereit und in der Lage sind, unser eigenes Verhalten kritisch zu überprüfen und den Bedürfnissen unseres Kindes anzupassen, kann Traumapädagogik positiv einwirken und zu Veränderung beitragen.

Aufgaben und Ziele der Traumapädagogik:

  • Verständnis für die Lebensgeschichte und die (Überlebens–)strategien
  • Eine positive und wertschätzende Grundhaltung den Menschen gegenüber
  • Ein verlässliches und aufrichtiges Beziehungsangebot
  • Psychische Stabilisierung, um Selbstkontrolle sowie Kontrolle über emotionale Reaktionen wiederzugewinnen und zur Entwicklung von Möglichkeiten der Selbstberuhigung und Selbstregulation
  • Erlernen von Handwerkszeug zur vorübergehenden Distanzierung von belastenden Erinnerungen
  • Ressourcenaktivierung und –stärkung
  • Aktivierung der Selbstheilungskräfte
  • Unterstützung beim Wiedererleben der Selbstwirksamkeit
  • Hilfestellung bei der Impuls– und Affektkontrolle